„Choreografie der Zahlen“
Moderne Kunst ist erklärungsbedürftig, denn sie hat mit den herkömmlichen Sehgewohnheiten gebrochen. Aus diesem Grund hier ein paar Sätze zu Ihrem besseren Verständnis.
Die Stilelemente dieses Baukörpers – also meines Bildträgers – wurden zur Gründerzeit durch die beiden Hauptfaktoren der tragenden und lastenden statischen Kräfte stabil organisiert. Die damalige Lebenswelt war durch die technische Anwendung des Herrschaftswissens in Form von Naturgesetzen zu einer Industriegesellschaft umgewandelt. Der Mensch machte unter diesen Umständen andere Erfahrungen mit sich selbst und der Welt. Ein anderer Gemütszustand forderte eine andere Geisteshaltung. Zudem hatte der wissenschaftliche Fortschritt neue ungewöhnliche logische Strukturen in den tiefsten Bereichen der Materie erkannt, welche sich im übergeordneten Sinne als wahrheits-führend erweisen sollten. Die bis dahin relevante mechanistische Wirklichkeitsdeutung wurde als darin aufgehoben erkannt. Das hatte geistesgeschichtlich weitreichende Folgen, die uns heute noch umtreiben.
Wir haben es insofern global gesehen mit einer Schwerpunktverschiebung des kulturellen Selbstverständnisses zu tun. Damals revoltierten die avantgardisitischen Künstler gegen die Zumutung der veränderten Wirklichkeitsdeutung durch welche ihnen Hören und Sehen zu vergehen drohte. Aus dem gleichen Grunde fühlten sich konstruktiv gestimmte Gemüter aufgerufen, ihre Mittel im Sinne der progressiven Denkungsart formal neu zu bestimmen. Sie trugen damit der vorherrschenden Tendenz einer Verwissenschaftlichung der Kunst Rechnung.
Eine aufgeklärte Ästhetik sollte als Grundlage für die Schaffung von Sinnbildern dienen, die dem Gemeinwesen die Orientierung böte, sich im Sinne der neuen Auslegung der Welt ethisch, moralisch auf sicherem Boden zu bewegen. Das Resultat erscheint in Form von farbig-abstrakten Signaturen-Ornamenten-Mustern, die dem statisch mechanistischen Ordnungsvorstellungen dieses Baukörpers unterlegt scheinen; die aber ihrer Bedeutung nach jenen Koordinaten übergeordnet sind und als Bildgegenstand auf die neue gesellschaftlich relevante Theorie verweisen. Dieses streng gegliederte Erscheinungsbild von systemimmanenten, proportional gewichteten Farbelementen, ist nicht zu verwechseln mit den mimetischen Ausweicherscheinungen der drei monotheistischen Hochreligionen, denen im Gefolge des mosaischen Bilderverbots ein gestörtes Verhältnis zur figürlichen Darstellung auferlegt wurde. In diesem Sinne konnte es in der islamischen Kunst zu besonders prägnanten multiblen, geometrischen Formen kommen.
Im vorliegenden Fall geht es um quasi positivistische Produkte einer paradigmatisch gewendeten aufgeklärten Ästhetik, welche durch das Postulat der Selbstorganisation zu werthaltigen Aussagen befähigt ist.
Unter diesen Voraussetzungen ist das ganzheitlich betrachtete Spannungsgefälle der komplementären Potentiale unseres sinnlichen Wahrnehmungsvermögens durch sein statistisches Mittel maßgeblich gekennzeichnet. Ein Richtwert, welcher rekursiv auf sich selbst angewendet das Gleiche in quantifizierten Verhältnissen am Verschiedenen aufzeigt. Eine innewohnende harmonikale Strategie der natürlichen Logik der Selbstorganisation – die im Prinzip allen Kategorien des Seins geistesgegenwärtig ist.
Mit dieser werthaltigen Regel der Kunst betreibt der Maler nun im Sinne der evolutionären Doppelstrategie ein Spiel mit den Stellenwerten seines Mediums.
Durch Mutation und Selektion generiert er diejenigen Sinnbilder, welche uns eine moderne-rational-spirituelle Orientierung sein können, sodass das Maß des gesellschaftlich handelnden Menschen in Bezug auf die Natur und Seinesgleichen wieder stabil um eine Mitte kreist, und die Menschheit des Anthropozän jene Selbstsicherheit zurück gewinnt, die für ihre Identität von existentieller Bedeutung ist.
Mai 2020, Eröffnungsrede
Hans Peter Röhe-Hansen